Es lebe Goethe!“
In Erinnerung an Boris Sluzki
heimgegangen 1986 am Tag der Roten Armee



Boris Sluzki (links) mit seinem Bruder Efim

In den ersten Kriegsjahren war ich Ruporist (Rupor = Schalltrichter). Dieser Frontausdruck ist heute fast vergessen. In den Jahren einundzwanzig und zweiundzwanzig jedoch hatte er große Bedeutung.
Die Kommissare wählten Soldaten und Offiziere niedriger Dienstgrade mit Deutschkenntnissen aus, Leute, die noch unlängst Schule oder Universität besucht hatten. Man gab ihnen Schalltrichter, die von Divisionshandwerkern aus leeren Konservendosen gefertigt worden waren. Mit diesen Megaphonen versehen, schlichen die Ruporisten in dunklen Nächten bis dicht an die vordersten Stellungen des Gegners heran und versuchten, ihn in ihrem absonderlichen, gebrochenen Soldatendeutsch zu überreden, sich in Gefangenschaft zu begeben.
Ich unterschied mich von den anderen Ruporisten nicht etwa durch eine bessere Aussprache, sondern dadurch, daß ich, nachdem ich Hitler und Goebels beschimpft hatte, jedesmal hinzufügte: „Es lebe Goethe!“ „Es lebe Heine!“, „Es lebe Thomas Mann!“ und erst dann eilig zu unseren Schützengräben zurückrobbte.
Die Sache machte Spaß und war zugleich gefährlich. Nicht wenige Ruporisten blieben im Schnee zurück, noch ehe sie ihre letzte Losung gerufen hatten.
Damals war ich zweiundzwanzig, dreiundzwanzig Jahre alt. Wenn ich jetzt, dreißig Jahre später, an die Ruporisten zurückdenke, wird mir bewußt, wie fest die große deutsche Kultur schon damals vor dem Krieg, in der gebildeten sowjetischen Jugend verwurzelt war. Seit Puschkin und Lermontow haben sämtliche russischen Dichter, die Nachdichtungen schufen, immer auch deutsche Gedichte übertragen.
Alle russischen Freunde der Poesie liebten „Die Braut von Korinth“, „Deutschland – ein Wintermärchen“ oder „Die Ballade vom unbekannten Soldaten“ wie eigene Dichtung. Aus dem Krieg heimgekehrt, wurde ich Berufsdichter und schrieb auch viele Male über Deutschland, obwohl ich nie dort gewesen bin.
Ich wurde ein professioneller Nachdichter und übertrug mehrere tausend Verszeilen von Brecht sowie Gedichte von Heine, Keller, Chamisso ins Russische. Unvermindert liebe ich den deutschen Roman, die deutsche Lyrik, das deutsche Schauspiel.
Die Wurzeln hierfür führen zurück in jenen ersten Kriegswinter bei Moskau, in die trockene, windstille Frostluft von vierzig Grad, die die Laute aus dem Blechtrichter so gut weitertrug, wenn ich hineinschrie: „Es lebe Goethe!
                                                                                                                                                                        Boris Sluzki

Halbtöne erkennt er nicht an. Er liebt die vollen Töne, die präzise einsetzenden. Abstufungen und weiche Übergänge von einer Klangfarbe in eine andere sind ihm fremd. Er bevorzugt scharfe Konturen. Doch hinter aufregenden Trockenheit und Schärfe verbirgt sich ein hohes Maß an Menschlichkeit und Empfindung. Man muß nur gutauf passen. Man muß sich auf die seelische Welle dieses Autors einstellen.
                                                                                                                                     Lew Adolfowitsch Oserow,
                                                                                                                            Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker

Es gibt Menschen, die die Unverbindlichkeit gegenüber den Mitmenschen zu ihrem kugelsicheren Wattepanzer gemacht haben. Leider gibt es auch Dichter von dieser Sorte. Boris Sluzki ist aus anderem Holz geschnitzt: Für ihn gilt die Verbindlichkeit – gegenüber den Nächsten, den Fernerstehenden, gegenüber der Zeit und sich selbst.
Eine der wertvollsten psychologischen Eigenschaften Sluzkis ist seine tiefe Volksverbundenheit. Der Dichter zeigt nicht lediglich Mitgefühl mit dem einfachen Menschen, sondern er leidet gemeinsam mit dem Volk in Augenblicken des Unglücks und will sich vom Dasein des Volkes in nichts und durch keinerlei Privilegien abheben. An Sluzkis Lyrik frappierte mich die ungeschliffene Schroffheit, die mit keiner anderen vergleichbare markante Handschrift. Mittlerweile haben wir uns an diese Handschrift gewöhnt, in den fünfziger Jahren jedoch hat sie so manchen schockiert. Diese Gedichte waren gleichsam in einer besonderen Sprache verfaßt – einer gehauenen, kategorischen, unsentimentalen, „Sluzkischen“ Sprache. Etwas darin war von Baudelairscher Schärfe, etwas von Majakowskis Oratorischem, etwas von Selwinslkis Konstruktivismus und zugleich etwas völlig Eigenständiges.
Es waren nicht nur Literaturlehrer, die ihm zu einer eigenen Sprache verhalfen. Sein Frontleben als Politoffizier hatte ihn diesen Stiel gelehrt: barsch und unwiderruflich wie ein Befehl, informativ und bündig wie ein Lagebericht. Die Fakten gebraucht Sluzki nicht zur Illustration von Ideen oder zur Untermauerung von Metaphern; sie sind bei ihm derart verdichtet, daß sie selbst zu Ideen, zu Metaphern werden.

Das Prinzip des Dichters ist:
„So war es im Leben, und genau so muss es in Gedicht sein.“

                                                                                                                              Jewgeni Jewtuschenko (geb. Gangnus),
                                                                                                                                           Dichter und Schriftsteller

Russland. In Deinem Name spreche ich.
       Bevollmächtigt,
weil ich redlich mit Dir litt, redlich Deine Siege
mit erstritt. Offen und würdig trage ich vor
die verständlichen Formeln Deiner Befehle.
Ich war an der Front dabei. Drei Jahre lang:
seit dem Jahre vierzig und zwei.

War an der Front Parteiarbeiter. Und ich
erinnre mich an diesem Tag, der war wie viele:
Ich stehe vor Soldaten, die von Hunger wanken,
stehe vor Frierenden und Kranken,
       stehe vor Versprengten,
stehe von Soldaten, die die Köpfe senkten.
Hungrig und frierend, so stehe ich!

Es gibt kein Brot. Keinen Tabak. Keine Munition.
       Und keinen Ruhetag.
Ich spreche zu ihnen von Dir, Russland. Sie schweigen
       lange.
Treten dann ins Glied. Singen. Und gehen wieder
       in die Schlacht.

Was in den Briefen ihrer Frauen, ihrer Mütter steht,
was an der Ruhetagen als Lied von ihren Lippen
        weht,
was sie als Bild bewahren trotz Frost und Brand,
hat einen Namen nur – Russland, Heimatland.

Die Erinnerung an diesen Tag, an diese Schlacht
zeige ich vor: als Vollmacht und Befehl
in meiner neuen Stellung als Poet, eingedenk
der Leiden und Gebrechen, eingedenk
des wohlverdienten Siegs, für Dich, Rußland,
       zu sprechen.
                                 Übersetzung von Karl Günter Wünsche

Wie meine Großmutter umgebracht wurde

Wie wurde meine Großmutter umgebracht?
So haben sie es gemacht:
Vor das Gebäude der Städtischen Bank
rollte eines Morgens ein Tank.
Die einhundertfünfzig Juden der Stadt,
leicht
       und von einem Hungerjahr matt,
bleich
       und den Tod im Sinn,
kamen mit ihren Bündeln dorthin.
Deutsche und hörige Polizei
drängte die Alten in ein Quadrat,
mit klappernden Kochgeschirren, in langer Reih,
führte sie weit hinaus
                                    aus der Stadt.
Großmutter aber, wie ein Atom so klein,
meine Großmutter mit ihren siebzig Jahren,
heizte mit Mutterflüchen
tüchtig den Deutschen ein.
Wo ich war, das sollten die Feinde erfahren,
so schrie sie: „Mein Enkel ist an der Front,
wagt es nur,
rührt uns nur an,
hier, wo man unsre Geschütze schon hören kann!“

Großmutter tobte und schrie
und ging,
       und von neuem fing
sie zu zetern an.
Und aus den Fenstern dann
schrien Iwanownas und Andrejewnas,
schimpften Sidorownas und Petrownas:
„Halt die Ohren steif, Polina Matwejewna!
Schrei sie an, laß dich nicht unterkriegen!“
Sie riefen und weinten:
„Oje, was kann man nur machen
mit diesen Deutschen, mit unsern Feinden?“
Darum beschlossen die Deutschen, Großmutter umzubringen,
solange sie noch mit dem Trupp durch die Straße gingen.

Dann hat die Salve gekracht,
zerpflückte den grauen Zopf,
Großmutter fiel, das Blei im Kopf,
so hat man sie umgebracht.
                                           Übersetzung von Annemarie Bostroem