Spuren im Sand

 

Als ich 15 war, sagte einer meiner Lehrer einen Satz, der mir bis heute, 15 Jahre später, immer noch nicht aus dem Kopf geht: „Viele kleine Menschen machen viele kleine Schritte, die die Welt verändern.“

 

Damals habe ich mir den Satz einfach nur gemerkt, ohne dessen Bedeutung beziehungsweise seinen wahren Wert tatsächlich nachvollziehen zu können. Tatsächlich verstanden habe ich diesen Satz erst vor einigen Wochen, als mein Großvater Artur Friesen seinen 83-ten Geburtstag feierte, und als der größte Teil der großen „Friesischen“ Familie sich versammelt hatte, um mit diesem und diesen Menschen zu feiern.

 

Großvater, geboren 9 Jahre nach der russischen Oktoberrevolution und zwischen 2 Weltkriegen, wurde, wie die meisten seiner Generation, quasi gänzlich seiner Jugend beraubt. Er war gerade 15 als der Zweite Weltkrieg auch bis nach Russland vordrängte.

 

Wer so eine Zeit erlebt und überlebt hat, tendiert meist zu zweierlei Extremen – entweder redet die Person nicht über das Erlebte, um die Wunden nicht wieder aufzureißen, oder die Person erzählt über das Erlebte in Einzelheiten, um dieses zu verarbeiten. Ich weiß nicht, ob es dem Großvater half, das Erlebte beim erzählen besser zu verarbeiten, aber glücklicherweise gehört er zu den zweiten Kategorie, und so kennen Mittelweile nicht nur die Kinder sonder auch Enkelkinder die meisten seiner Geschichten. Und bei so einem Leben gibt es eine ganze Menge davon.

 

Eine der Geschichten, die mich am Meisten beeindruckt und beeinflusst hat ist die, unter uns Enkeln auch als „Stiefelgeschichte“ bezeichnet, über Großvaters Erlebnisse im russischen Gefängnis während des Krieges.

 

Die wiederholte Flucht aus einem Arbeitslager, das für viele seiner Altersgenossen zum Grab wurde, endete für Großvater in einem Arrest. Eines Morgens wachte der damals 18-jährige Artur in seiner Zelle auf und stellte fest, dass einer seiner Mitinsassen tot war. In solchen Situationen wurde damals nicht lange getrauert, sondern es wurden recht schnell die Habseeligkeiten des Toten unter den Mitinsassen aufgeteilt. Opas Schuhe haben zu der Zeit schon längst ihren Geist aufgegeben, so hat er die Stiefeln des gestorbenen Kameraden bekommen, die bis zu seiner Rückkehr nach Hause hielten und wahrscheinlich dem Großvater geholfen haben am Leben zu bleiben.

 

Trotz der Grausamkeit der Erzählung hören wir jedes Mal gespannt zu. Es ist weniger die Geschichte, die einen fasziniert, sondern vielmehr der Großvater, der diese ruhig, nachdenklich und eigentlich mit einer Selbstverständlichkeit erzählt, die nur ein Mensch an den Tag legen kann, der die Geschehnisse akzeptiert, da er diese nicht ändern kann. Faszinierend dabei ist seine Nüchternheit, trotz der Emotionen, die auch Jahrzehnte später nach dem Erlebten immer noch da sind. Es drängt sich jedes Mal eine bestimmte Frage auf, wenn ich diese Geschichte höre. Über welch eine mentale und moralische Stabilität muss ein Mensch verfügen, um nach so etwas nicht einfach durchzudrehen, sondern normal zu bleiben. Sogar noch viel mehr – eine lebenswerte, liebenswerte und vor allem menschliche Person zu bleiben, die nicht nur das Erlebte verarbeitet hat, sondern dabei auch so eine Stärke an den Tag legt, an der sich nicht viele messen können. Dessen Lebensfreude und die stetige Neugierde äußerst beneidenswert sind, und von dessen Gelassenheit jeder von uns sich Mal eine Scheibe abschneiden kann.

 

Der Großvater verlor weder seine Nerven noch seinen Lebenswillen in diesem Krieg. Stattdessen las er alles, was er in die Finger bekam. Und dann kehrte er in seine Heimat zurück, begann genau wie sein Vater an der Schule zu unterrichten, heiratete, gründete eine Familie, holte seinen Abitur nach, studierte, machte Kariere, baute ein Haus, pflanzte sämtliche Bäume und blieb dabei immer gelassen und vor allem sehr menschlich. Eine Person, die man gerne um sich herum hat, eine Person, die man gerne um einen Rat fragen möchte, eine Person, auf die man zählen kann.

 

Für unsere verweichlichte, vom Berufsalttag geplagte, durch die Medien verwirrte, durch die Chancenvielfalt um den Verstand gebrachte und absolut gestresste Generation ist die Ruhe und die Bodenständigkeit des Großvaters zunächst gewöhnungsbedürftig, hat jedoch auch eine heilende Wirkung. Die Fähigkeit sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, sich nicht über jeden Quatsch den Kopf zu zerbrechen, sondern die Dinge so zu nehmen wie sie sind und dabei authentisch zu bleiben.

 

Wenn man an Sommerferien auf dem Hof der Großeltern denkt, verbindet man diese Momente nicht unbedingt mit einer bestimmten Geschichte, die man mit dem Großvater erlebt hat. Es ist viel mehr die Erinnerung an all die anderen Menschen in unserem Haus, und wie sie mit dem Großvater umgegangen sind: äußerst respektvoll.

 

Als Kind nimmt man alles für gegeben und selbstverständlich. Man denkt nicht unbedingt darüber nach, welch einer Kraft es kostet, eigene Familie durchzubringen, Kariere zu machen, eine stabile Ehe zu führen. Was für eine Weisheit es bedarf, sich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren und vor allem zu wissen, was das Wesentliche tatsächlich ist. Sich die Tatsache bewusst zu werden, dass die Eigenschaft das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden nicht einfach so vorhanden ist, sondern zuerst erlernt und entwickelt werden muss. Diesen Kraftaufwand merkt man erst, wenn man selbst kurz davor oder gerade dabei ist die genannten Sachen zu erreichen bzw. zu erfüllen, während die Großeltern es damals scheinbar mühelos an den Tag legten.

 

Am Tag der Geburtstagsfeier wurde der Großvater im Kreise seiner Familie gefeiert worden. Ich beobachtete die Familie, die gut geratenen Kinder von Großeltern, die schönen und intelligenten Enkelkinder, die süßen Urenkeln, Großvaters zahlreiche Geschwister. Ich lauschte den Reden, den kurzen und langen Geschichten aus dem Leben der Großeltern und dachte darüber nach, was wohl nach so einem langen Leben zurückbleiben würde und ob irgendetwas überhaupt zurückbleiben würde.

 

Ich sah die Freude in Opas’ Augen als er die Feierlichkeiten „über sich ergehen ließ“, ich sah Liebe und Respekt, wenn er seine Ehefrau und unsere Großmutter anschaute, und ich sah wie stolz die Enkelkinder auf ihren Großvater waren und welch einen Respekt sie vor diesem Menschen hatten.

 

Genau in diesem Moment verstand ich den Sinn dieses denkwürdigen Satzes, welcher mich seit nun 15 Jahren begleitete. Denn ich sah die Spuren, die der Großvater im Laufe seines Lebens hinterlassen hat und die noch sehr lange sichtbar und spürbar bleiben werden, auch wenn er irgendwann nicht mehr da ist.

 

Dieser Mensch ging seinen Lebensweg in großen und kleinen Schritten, er ist einer von vielen gewesen und doch so einzigartig geblieben. Nichts hat ihn gebrochen und verändert, weder die harte Kriegszeit noch die Verantwortung, die er schon immer tragen musste, noch der Umzug nach Deutschland.

 

Dafür veränderte er seine Umgebung und seine Welt nachhaltig, tut es immer noch und wird es hoffentlich noch sehr lange tun. Denn er weiß genau worauf es im Leben ankommt, was tatsächlich wertvoll ist und zählt – die Familie und ihr Zusammenhalt. Und das ist die Eigenschaft, die wir, seine Enkelkinder, uns von ihm abgucken und versuchen es langsam aber stetig auf unser eigenes Leben anzuwenden.

 

 

Svetlana Weiß-Friesen

Andrej Friesen